Martin Pille „Stiller Sonntag“
Als die Frau 30 Jahre danach an diesem Sonntag ihr Haus verließ, zog sie mit der linken Hand einen Stuhl hinter sich her. In der rechten hielt sie eine doppelläufige Schrotflinte vom Kaliber 12, die ihrem Mann gehört hatte, den sie gestern zu Grabe getragen hatten.
Schon nach wenigen Schritten musste sie eine Pause einlegen, und sie setzte ihren massigen Körper auf den Stuhl inmitten des Vorgartens. Die Beete waren gepflegt und mit Buchsbaum eingefasst. Vor den Fenstern blühten Geranien. Sie trug bäuerliche Sandalen und eine Kittelschürze über dem Kleid vielen blanken Stellen. Sie hatte tiefschwarzes Haar mit einer helleren Strähne über der Stirn.
Schritt für Schritt überquerte sie die Landstraße und schlurfte jetzt über den Sandweg, der durch den Esch führte. Der Weg stieg nun an, und die Alte blieb stehen und setzte sich wieder auf den Stuhl um auszuruhen. Sie löste jetzt ihren Blick nicht mehr vom staubigen Weg, und das schwere Gewehr legte sie über den linken Arm, so, wie man ein Kind in den Schlaf wiegt.
Obwohl der Sommer erst kommen sollte, war es jetzt in der Mittagszeit erstickend heiß. Niemand ließ sich sehen, als die Alte sich wieder aufrappelte. Sie pustete und rang nach Luft, vom Asthma erschöpft und von der Hitze besiegt, und immer kürzer wurden jetzt die Abstände, dass sie sich ermattet setzen musste. Der Schweiß rann über ihr Gesicht und in das Kleid, das ihr auf dem Leib klebte. Die Haare hingen in Strähnen in ihrem nassen Gesicht, und sie beugte den Körper nach vorne, um besser atmen zu können. Mit einem großen Tuch, das sie aus dem Ärmel zog, wischte sie sich über die Stirn und den Nacken. Es ging ein trockener heißer Wind vom Esch herab, und die Alte ging lange über den staubigen Weg und durch die Stille des Getreides beiderseits des Weges.
Dann beendete sie den trostlosen Weg und erreichte erschöpft das Haus des Doktors am anderen Ende des Ebene, der dort mit seiner Familie in protziger Mittelmäßigkeit lebte. Nur die Tauben unterbrachen die Stille mit ihrem Gurren und glucksenden Getue auf den Regenrinnen des Daches. Die alte Frau atmete schwer und rasselnd, von kurzen Seufzern und einem rauhen kurzen Husten gestört. Sie setzte sich wieder auf den Stuhl und sah auf die Tür.
Hier hatte sie gestanden vor 30 Jahren und den Arzt gefragt, ob sie ihr einziges Kind impfen lassen könne, das sich eine Woche zuvor den Oberschenkel gebrochen hatte. Mürrisch, weil sie ihn im Mittagschlaf störte, hatte er ohne zu Zögern das Papier unterschrieben und ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen. Am nächsten Tag hatte man den Sohn geimpft und am übernächsten starb er, und die Frau versank in ihrem Leid und litt tonlos vor sich hin, jahrelang.
Als der Doktor die Tür öffnete, blickte er in die Räucheraugen der Schrotflinte. "Ich hatte mein Unglück in aller Stille überwinden wollen", dachte die Frau, "aber es ist ein schreiendes Geheimnis", dann sagte sie langsam: "und ich habe es nicht vergessen, Doktor!".
Ihre Stimme klang langsam und gelassen. Der Mann wich nicht zurück, sah nur bleich und erstaunt auf die alte Frau, und er hörte noch den Peitschenknall der Schrotflinte und fiel dann ohne Gesicht nach hinten auf den Boden. Die Stille füllte sich mit den erschrockenen Tauben.
Erst bei Sonnenuntergang kehrte die alte Frau, den Stuhl hinter sich her ziehend, in das Dorf zurück. Sie sog den Duft der von der Schafherde am Wegrand zertrampelten Kamille ein und bemerkte nicht die Polizisten vor ihrem Haus, aber sie hörte in weiter Entfernung die Stimmen von spielenden Kindern.